Ritomare
 Joachim Strienz · Die Welt des Ötzi

 

 

 

 
 
 
 
 

 

 

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1.Tag Ankunft am See

Der große gelbe Postbus hielt auf einem Platz in der Mitte des Dorfes. Ich war endlich angekommen. Wir hatten Orte wie Camuns, Uors, Tersnaus, Bucarischuna und Lunschania passiert. Im Stauraum des Buses befanden sich mein Koffer und der Rucksack. Also musste ich jetzt aussteigen. Das Dorf lag in einem Hochtal. Grüne Matten führten das Auge nach oben. Ganz oben war der Fels kahl und glänzte in der Sonne. Die Matten spiegelten in unterschiedlichen Grüntönen und wie zur Dekoration schauten verschieden große Felsbrocken heraus. Bauern verteilten das abgemähte Gras oder zogen es mit großen Rechen in kleine Reihen zusammen. Ein idyllisches Bild. Neben der Haltestelle sah man ein mit großen Quadern befestigtes Flussbett, allerdings floss heute nur ein Rinnsal. Wahrscheinlich war das nicht immer so.

Der Busfahrer hatte inzwischen meine Gepäckstücke aus dem Bus geholt und vor mir abgestellt. „Uf wiederluege!“ sagte er freundlich und zwinkerte mit dem linken Auge. „Dann bis in 3 Wochen“, sagte ich, schlüpfte in die Schlaufen meines Rucksackes und hob den Koffer an. Ich schaute mich erneut um.

Eigentlich wollte mich ja Gianni Moretti mit seinem Lada abholen, aber der war nicht zu sehen. Ich stellte meinen Koffer zunächst auf den Gehsteig. Zwei Leute waren mit mir ausgestiegen und liefen inzwischen schon in der Ferne davon.

Der Bus wendete gerade und begann die Rückfahrt. Ich schaute wieder zu den Berggipfeln hoch. Steil und sicherlich zu Fuß nicht zu erreichen, dachte ich mir. Ein bisschen Hunger hatte ich auch schon. Wasser gab es noch genügend in der grünen Flasche. Vielleicht sollte ich erst mal einen Schluck nehmen.

Mein Handy klingelte.

„Hallo! Ich bin`s, Gianni Moretti! Der Lada wollte nicht anspringen, aber jetzt komme ich! Noch ein paar Minuten! Tutto bene, Andreas Steinfeld?“

„Ja“, sagte ich.

Er hatte wieder aufgelegt.

Da stand ich nun. Moretti hatte mich eingeladen, drei Wochen in seiner Almhütte zu verbringen. Jutta machte eine Fortbildung in Hannover und ich hatte die Praxis geschlossen. Eigentlich ganz reizvoll hatte ich mir vorgestellt. Aber jetzt in diesem Dorf. Zu viel von dieser Idylle, dachte ich mir. Drei Wochen, ob ich das hier aushalten würde?

„Es wird keinen Computer geben und auch das Handy funktioniert dort oben nicht. Aber das wirst Du überhaupt nicht brauchen. Wir stehen auf, wenn die ersten Sonnenstrahlen leuchten und wir gehen Schlafen, wenn die Sonne untergeht, fantastico!“

Im kleinen Laden neben der Haltestelle gab es Postkarten. Sollte ich vielleicht welche an Freunde oder Bekannte schicken. Aber da hielt schon mit quietschenden Reifen Gianni Moretti neben mir. Er grinste breit und im Mundwinkel steckte ein Zigarillo. Er sah aus wie ein Revolutionär, nicht wie der Feingeist, den ich bisher gekannt hatte.

Er öffnete die Seitentüren, verstaute Koffer und Rucksack auf der Rückbank und lud mich ein, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. „Si accomodi, nehmen Sie Platz!“ rief er.

Wir fuhren los. „Schön, dass Du gekommen bist, ich freue mich sehr! Die Berge werden Dir gefallen. Er gab mir die Hand.

„Erinnerst Du dich, wie wir uns letztes Jahr in der Bar o.T. getroffen haben und so interessante Gespräche geführt haben? Über Quantenphysik. Es war so aufregend mit Dir und Deinem Freund, ich glaube Siggi hieß er, über diese Themen zu sprechen. Ich bin Künstler, aber es war nicht immer so. Einmal musste ich auf meine Almhütte flüchten, aber das ist schon lange her.“

In der Zwischenzeit hatten wir das Dorf verlassen und fuhren nun eine schmale Straße aufwärts. Ein dichter Wald säumte den Weg. Kurve um Kurve umrundete der Wagen. Plötzlich hörten die Bäume ganz auf und Weiden kamen zum Vorschein. Wir bogen nach rechts auf eine Schotterstraße ab und der Wagen fing an, immer mehr zu schaukeln.

„Halte Dich fest!“ rief Gianni. „Die Straße hatte viele Löcher.“

Es ging weiter bergauf. Links und rechts standen Kühe und schauten uns neugierig an. Sie hörten alle auf zu fressen.

„Die kennen Dich noch nicht“, sagte Gianni und grinste.

Dann ging es über eine Holzbrücke, und der Wagen schwankte hin und her. Plötzlich weitete sich der Blick und ich sah einen See. Klein zwar, aber sehr idyllisch umgeben von Felswänden und Geröll. Sanft fiel das Gelände zum See hin ab. Der Boden war wellig und es sah aus wie eine große Weide. Allerdings fehlten hier die Tiere.

„Allora, hier sind wir!“, rief Gianni.

Auf der rechten Seite stand ein für die Bergregion typisches kleines Haus mit einem Fundament aus Stein und einem hölzernen Aufbau. Das Dach war mit flachen Granitsteinen beschwert.

Der Lada hielt an. Langsam stieg ich aus und blickte umher.

„Das ist der Selva-See. Wir sind jetzt über 2000m hoch. Es ist ein bisschen frisch hier oben. Aber die Luft ist gesund. Du wirst Dich gut erholen. Komm, ich zeige Dir das Haus.“

Wir stiegen aus. Er nahm meinen Koffer, ich den Rucksack und wir gingen ins Haus. Es war ein Raum mit einer offenen Feuerstelle. Im hinteren Teil sah man eine Holztreppe, die in das obere Stockwerk führte. Gianni stellte den Koffer auf die Seite.

„Du wirst Hunger haben? Essen wir etwas und Du erzählst, wie es Dir in den letzten Monaten gegangen ist.“

Gianni packte aus einer Box Wurst und Käse aus, legte ein paar Brotscheiben dazu und wir setzten uns in etwas wackelige Holzstühle auf die Veranda.

„Gut ist es mir gegangen. Ich habe ja ein Buch über Quantenphysik geschrieben, danach habe ich es auch veröffentlicht, Freunde eingeladen und ein bisschen gefeiert. Dann hast Du angerufen und gefragt, ob ich kommen wolle und jetzt bin ich da. Oben auf dem Berg. Aber wieso bist Du so weit oben in dieser Einsamkeit, Gianni, da fehlt Dir doch sicher etwas?“

„Nein, wirklich nicht. Und, wenn es zu einsam wird, dann kann ich ja wieder gehen. Warum ich hier oben bin, das ist eine lange Geschichte. Soll ich sie Dir wirklich erzählen? Aber, warum auch nicht! Sie ist Teil meines Lebens. Ich war Mitglied der Roten Brigaden. Die Italiener sagten Brigate Rosse, später nur noch BR. Es war für mich irgendwann ziemlich gefährlich und deshalb bin ich abgehauen. Dann kam ich hier her und das Versteck hat mir das Leben gerettet. Niemand hat mich hier jemals gefunden.“

Ich überlegt. „Rote Brigaden?“

„Die Roten Brigaden waren eine kommunistische Untergrundorganisation in Italien. Sie wurde 1970 in Mailand gegründet. Es war zunächst eine Stadtguerilla. Dann gab es Mordanschläge, Entführungen und Banküberfälle. Und 1978 haben sie den ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro entführt und ermordet. Die Gruppe bestand damals aus über 1000 Mitgliedern.“

Entsetzt blickte ich Gianni an und hörte auf zu kauen.

„Da warst Du dabei?“

„Wie in fast allen Ländern der westlichen Welt, so kam es in den Jahren um 1968 auch in Italien zu einem Aufbegehren der Studenten. Deren Protest richtete sich damals gegen die schlechten Studienbedingungen sowie gegen autoritäre Strukturen an den Universitäten und in der Gesellschaft. Von entscheidender Bedeutung war zudem der Vietnamkrieg, durch den die USA zu einem Feindbild der Linken avancierte. Damals gelang es den italienischen Studenten, ihren Protest mit dem der Arbeiter zu verbinden, wie es z. B. auch in Frankreich gelungen war. Zahlreiche linksradikale Gruppierungen, wie z. B. Lotta Continua, das heißt „der Kampf geht weiter“ oder „Potere operaio“, das heißt „die Arbeitermacht“ entstanden damals.“

Er schwieg kurz und sprach dann weiter.

„Zunächst operierten alle legal, aber dann entstanden die ersten Untergrundorganisationen und die erste Bombe ging in Mailand hoch. Viele wurden verhaftet und einer von uns ist im Polizeigewahrsam auch gestorben, einfach so aus dem Fenster gestürzt. Wie Rudi Dutschke bei euch in Germania.“

Rudi Dutschke war mir ein Begriff.

„Die Stimmung war angeheizt. Aber das war Absicht der Rechten und des Geheimdienstes, die hatten nämlich die Bombenanschläge selbst verübt, nicht die Roten Brigaden, wie sich später dann auch herausstellte. Renato Curcio, einer der Gründer der Roten Brigaden hatte damals über den Anschlag in Mailand gesagt, dass dieses Ereignis einen „qualitativen Sprung“ ausgelöst hätte. „Zuerst im Denken und dann im Handeln“. Er hat das Bombenattentat als eine Art Kriegserklärung an die linke Bewegung aufgefasst. Wir hatten uns in der Tradition der Partisanenbrigaden der Resistenzia gesehen. Und rosse, nämlich rot ist die Farbe der Revolution. Der asymmetrische, fünfzackige Stern, glich dem der Brigate Garibaldi und war darüber hinaus das Zeichen der uruguayischen Tupamaros.“

Gianni machte eine Pause und ich begann weiter zu essen.

„Und welche Rolle hast Du dabei gespielt?“ fragte ich.

„Die BR bestanden anfangs aus 15 Mitgliedern und ich war einer davon. Wir waren bis 1972 ausschließlich in Mailand aktiv. Den ersten Anschlag verübten wir im September 1970 auf das Auto des Siemens Managers Giuseppe Leoni. Damals war der Wirkungskreis eng begrenzt auf die Fabriken rund um Mailand. Wir wollten damals möglichst viele Leute hinzugewinnen. Wir organisierten Anschläge auf Manager, die Verantwortlichen für die Unterdrückung der Arbeiter. Die Angriffe richteten sich zunächst ausschließlich gegen deren Eigentum, in der Regel gegen das Auto, und nicht gegen die Personen selbst. Wir haben viele Aktionen bei Pirelli, dem Reifenhersteller, gemacht. Immer brauchten wir Geld, deshalb auch die vielen Banküberfälle.“

Ich schaute ihn genauer an. Aber er sprach scheinbar ganz gelassen.

...

 

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