1.Tag Ankunft am See
Der große gelbe Postbus
hielt auf einem Platz in der
Mitte des Dorfes. Ich war
endlich angekommen. Wir hatten
Orte wie Camuns, Uors, Tersnaus,
Bucarischuna und Lunschania
passiert. Im Stauraum des
Buses befanden sich mein Koffer
und der Rucksack. Also musste
ich jetzt aussteigen. Das
Dorf lag in einem Hochtal.
Grüne Matten führten
das Auge nach oben. Ganz oben
war der Fels kahl und glänzte
in der Sonne. Die Matten spiegelten
in unterschiedlichen Grüntönen
und wie zur Dekoration schauten
verschieden große Felsbrocken
heraus. Bauern verteilten
das abgemähte Gras oder
zogen es mit großen
Rechen in kleine Reihen zusammen.
Ein idyllisches Bild. Neben
der Haltestelle sah man ein
mit großen Quadern befestigtes
Flussbett, allerdings floss
heute nur ein Rinnsal. Wahrscheinlich
war das nicht immer so.
Der Busfahrer hatte inzwischen
meine Gepäckstücke
aus dem Bus geholt und vor
mir abgestellt. Uf wiederluege!
sagte er freundlich und zwinkerte
mit dem linken Auge. Dann
bis in 3 Wochen, sagte
ich, schlüpfte in die
Schlaufen meines Rucksackes
und hob den Koffer an. Ich
schaute mich erneut um.
Eigentlich wollte mich ja
Gianni Moretti mit seinem
Lada abholen, aber der war
nicht zu sehen. Ich stellte
meinen Koffer zunächst
auf den Gehsteig. Zwei Leute
waren mit mir ausgestiegen
und liefen inzwischen schon
in der Ferne davon.
Der Bus wendete gerade und
begann die Rückfahrt.
Ich schaute wieder zu den
Berggipfeln hoch. Steil und
sicherlich zu Fuß nicht
zu erreichen, dachte ich mir.
Ein bisschen Hunger hatte
ich auch schon. Wasser gab
es noch genügend in der
grünen Flasche. Vielleicht
sollte ich erst mal einen
Schluck nehmen.
Mein Handy klingelte.
Hallo! Ich bin`s, Gianni
Moretti! Der Lada wollte nicht
anspringen, aber jetzt komme
ich! Noch ein paar Minuten!
Tutto bene, Andreas Steinfeld?
Ja, sagte ich.
Er hatte wieder aufgelegt.
Da stand ich nun. Moretti
hatte mich eingeladen, drei
Wochen in seiner Almhütte
zu verbringen. Jutta machte
eine Fortbildung in Hannover
und ich hatte die Praxis geschlossen.
Eigentlich ganz reizvoll hatte
ich mir vorgestellt. Aber
jetzt in diesem Dorf. Zu viel
von dieser Idylle, dachte
ich mir. Drei Wochen, ob ich
das hier aushalten würde?
Es wird keinen Computer
geben und auch das Handy funktioniert
dort oben nicht. Aber das
wirst Du überhaupt nicht
brauchen. Wir stehen auf,
wenn die ersten Sonnenstrahlen
leuchten und wir gehen Schlafen,
wenn die Sonne untergeht,
fantastico!
Im kleinen Laden neben der
Haltestelle gab es Postkarten.
Sollte ich vielleicht welche
an Freunde oder Bekannte schicken.
Aber da hielt schon mit quietschenden
Reifen Gianni Moretti neben
mir. Er grinste breit und
im Mundwinkel steckte ein
Zigarillo. Er sah aus wie
ein Revolutionär, nicht
wie der Feingeist, den ich
bisher gekannt hatte.
Er öffnete die Seitentüren,
verstaute Koffer und Rucksack
auf der Rückbank und
lud mich ein, auf dem Beifahrersitz
Platz zu nehmen. Si
accomodi, nehmen Sie Platz!
rief er.
Wir fuhren los. Schön,
dass Du gekommen bist, ich
freue mich sehr! Die Berge
werden Dir gefallen. Er gab
mir die Hand.
Erinnerst Du dich,
wie wir uns letztes Jahr in
der Bar o.T. getroffen haben
und so interessante Gespräche
geführt haben? Über
Quantenphysik. Es war so aufregend
mit Dir und Deinem Freund,
ich glaube Siggi hieß
er, über diese Themen
zu sprechen. Ich bin Künstler,
aber es war nicht immer so.
Einmal musste ich auf meine
Almhütte flüchten,
aber das ist schon lange her.
In der Zwischenzeit hatten
wir das Dorf verlassen und
fuhren nun eine schmale Straße
aufwärts. Ein dichter
Wald säumte den Weg.
Kurve um Kurve umrundete der
Wagen. Plötzlich hörten
die Bäume ganz auf und
Weiden kamen zum Vorschein.
Wir bogen nach rechts auf
eine Schotterstraße
ab und der Wagen fing an,
immer mehr zu schaukeln.
Halte Dich fest!
rief Gianni. Die Straße
hatte viele Löcher.
Es ging weiter bergauf. Links
und rechts standen Kühe
und schauten uns neugierig
an. Sie hörten alle auf
zu fressen.
Die kennen Dich noch
nicht, sagte Gianni
und grinste.
Dann ging es über eine
Holzbrücke, und der Wagen
schwankte hin und her. Plötzlich
weitete sich der Blick und
ich sah einen See. Klein zwar,
aber sehr idyllisch umgeben
von Felswänden und Geröll.
Sanft fiel das Gelände
zum See hin ab. Der Boden
war wellig und es sah aus
wie eine große Weide.
Allerdings fehlten hier die
Tiere.
Allora, hier sind wir!,
rief Gianni.
Auf der rechten Seite stand
ein für die Bergregion
typisches kleines Haus mit
einem Fundament aus Stein
und einem hölzernen Aufbau.
Das Dach war mit flachen Granitsteinen
beschwert.
Der Lada hielt an. Langsam
stieg ich aus und blickte
umher.
Das ist der Selva-See.
Wir sind jetzt über 2000m
hoch. Es ist ein bisschen
frisch hier oben. Aber die
Luft ist gesund. Du wirst
Dich gut erholen. Komm, ich
zeige Dir das Haus.
Wir stiegen aus. Er nahm
meinen Koffer, ich den Rucksack
und wir gingen ins Haus. Es
war ein Raum mit einer offenen
Feuerstelle. Im hinteren Teil
sah man eine Holztreppe, die
in das obere Stockwerk führte.
Gianni stellte den Koffer
auf die Seite.
Du wirst Hunger haben?
Essen wir etwas und Du erzählst,
wie es Dir in den letzten
Monaten gegangen ist.
Gianni packte aus einer Box
Wurst und Käse aus, legte
ein paar Brotscheiben dazu
und wir setzten uns in etwas
wackelige Holzstühle
auf die Veranda.
Gut ist es mir gegangen.
Ich habe ja ein Buch über
Quantenphysik geschrieben,
danach habe ich es auch veröffentlicht,
Freunde eingeladen und ein
bisschen gefeiert. Dann hast
Du angerufen und gefragt,
ob ich kommen wolle und jetzt
bin ich da. Oben auf dem Berg.
Aber wieso bist Du so weit
oben in dieser Einsamkeit,
Gianni, da fehlt Dir doch
sicher etwas?
Nein, wirklich nicht.
Und, wenn es zu einsam wird,
dann kann ich ja wieder gehen.
Warum ich hier oben bin, das
ist eine lange Geschichte.
Soll ich sie Dir wirklich
erzählen? Aber, warum
auch nicht! Sie ist Teil meines
Lebens. Ich war Mitglied der
Roten Brigaden. Die Italiener
sagten Brigate Rosse, später
nur noch BR. Es war für
mich irgendwann ziemlich gefährlich
und deshalb bin ich abgehauen.
Dann kam ich hier her und
das Versteck hat mir das Leben
gerettet. Niemand hat mich
hier jemals gefunden.
Ich überlegt. Rote
Brigaden?
Die Roten Brigaden
waren eine kommunistische
Untergrundorganisation in
Italien. Sie wurde 1970 in
Mailand gegründet. Es
war zunächst eine Stadtguerilla.
Dann gab es Mordanschläge,
Entführungen und Banküberfälle.
Und 1978 haben sie den ehemaligen
italienischen Ministerpräsidenten
Aldo Moro entführt und
ermordet. Die Gruppe bestand
damals aus über 1000
Mitgliedern.
Entsetzt blickte ich Gianni
an und hörte auf zu kauen.
Da warst Du dabei?
Wie in fast allen Ländern
der westlichen Welt, so kam
es in den Jahren um 1968 auch
in Italien zu einem Aufbegehren
der Studenten. Deren Protest
richtete sich damals gegen
die schlechten Studienbedingungen
sowie gegen autoritäre
Strukturen an den Universitäten
und in der Gesellschaft. Von
entscheidender Bedeutung war
zudem der Vietnamkrieg, durch
den die USA zu einem Feindbild
der Linken avancierte. Damals
gelang es den italienischen
Studenten, ihren Protest mit
dem der Arbeiter zu verbinden,
wie es z. B. auch in Frankreich
gelungen war. Zahlreiche linksradikale
Gruppierungen, wie z. B. Lotta
Continua, das heißt
der Kampf geht weiter
oder Potere operaio,
das heißt die
Arbeitermacht entstanden
damals.
Er schwieg kurz und sprach
dann weiter.
Zunächst operierten
alle legal, aber dann entstanden
die ersten Untergrundorganisationen
und die erste Bombe ging in
Mailand hoch. Viele wurden
verhaftet und einer von uns
ist im Polizeigewahrsam auch
gestorben, einfach so aus
dem Fenster gestürzt.
Wie Rudi Dutschke bei euch
in Germania.
Rudi Dutschke war mir ein
Begriff.
Die Stimmung war angeheizt.
Aber das war Absicht der Rechten
und des Geheimdienstes, die
hatten nämlich die Bombenanschläge
selbst verübt, nicht
die Roten Brigaden, wie sich
später dann auch herausstellte.
Renato Curcio, einer der Gründer
der Roten Brigaden hatte damals
über den Anschlag in
Mailand gesagt, dass dieses
Ereignis einen qualitativen
Sprung ausgelöst
hätte. Zuerst im
Denken und dann im Handeln.
Er hat das Bombenattentat
als eine Art Kriegserklärung
an die linke Bewegung aufgefasst.
Wir hatten uns in der Tradition
der Partisanenbrigaden der
Resistenzia gesehen. Und rosse,
nämlich rot ist die Farbe
der Revolution. Der asymmetrische,
fünfzackige Stern, glich
dem der Brigate Garibaldi
und war darüber hinaus
das Zeichen der uruguayischen
Tupamaros.
Gianni machte eine Pause
und ich begann weiter zu essen.
Und welche Rolle hast
Du dabei gespielt? fragte
ich.
Die BR bestanden anfangs
aus 15 Mitgliedern und ich
war einer davon. Wir waren
bis 1972 ausschließlich
in Mailand aktiv. Den ersten
Anschlag verübten wir
im September 1970 auf das
Auto des Siemens Managers
Giuseppe Leoni. Damals war
der Wirkungskreis eng begrenzt
auf die Fabriken rund um Mailand.
Wir wollten damals möglichst
viele Leute hinzugewinnen.
Wir organisierten Anschläge
auf Manager, die Verantwortlichen
für die Unterdrückung
der Arbeiter. Die Angriffe
richteten sich zunächst
ausschließlich gegen
deren Eigentum, in der Regel
gegen das Auto, und nicht
gegen die Personen selbst.
Wir haben viele Aktionen bei
Pirelli, dem Reifenhersteller,
gemacht. Immer brauchten wir
Geld, deshalb auch die vielen
Banküberfälle.
Ich schaute ihn genauer an.
Aber er sprach scheinbar ganz
gelassen.
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